Der Drachenflüsterer

Anfang Februar ist der blaue Hase auf unserem Schaufenster einem goldgelben Drachen gewichen. Einem feuerspeienden, wolkenumwirbelten himalayischen Donner-Druk mit juwelenkrallenden Klauen. Gezeichnet hat ihn Jamyang. In der Mittagspause. Auf eine Serviette.

Seit ein paar Jahren dekorieren wir das Schaufenster an der Kirchgasse mit traditionellen tibetischen Motiven. 2022 waren es die vier harmonischen Freunde. 2023 folgte das Tierkreiszeichen des Jahres, ein blauer Wasser-Hase. Und seit längerem war uns klar, dass es 2024 der Holz-Drache sein würde und somit ein Fall für Jamyang.

Jamyang ist ein guter Familienfreund. Er ist in Tibet aufgewachsen und wurde dort ab dem zwölften Lebensjahr von einem Lama in einem Kloster in die traditionelle Thangka-Malerei eingeführt. Die tibetischen Rollbilder werden nach streng rituellen Vorschriften gemalt, wobei die komplexen Vorgaben der jahrhundertealten buddhistischen Ikonographie und Ikonometrie eingehalten werden müssen. Jedes Detail ist vorgegeben. Oft sind mehrere Künstler an einem Werk beteiligt. Sie bleiben anonym: angestrebt wird nicht weltlicher Ruhm, sondern gutes Karma, das gemäss der buddhistischen Lehre durch gelungene Abbilder der Buddha-Natur positiv beeinflusst werden kann.

Hauptberuflich ist Jamyang Sushi-Chef in einem Zürcher Restaurant. Seit er in der Schweiz lebt, ist die Kunst eher ein Hobby und die Thangka-Malerei zum Nebenschauplatz geworden. Er experimentiert gerne mit verschiedenen Genres und sticht seit einer Weile auch grossartige Tattoos.

Den Drachen-Auftrag hat Jamyang dann aus Gründen etwas kurzfristig bekommen. Eine Skizze wurde erstellt und gutgeheissen, doch als der Abgabetermin für den Drucker kam, musste es schnell gehen.

Jamyang hat den Drachen schliesslich über Mittag im Restaurant gezeichnet, aus dem Gedächtnis mit dem Kugelschreiber auf eine Serviette. Kleine Sache für ihn. Wir hingegen staunten über die makellose Vollkommenheit und den Detailreichtum dieses locker hingeworfenen Werkes, das uns nun auf dem Fenster durch das tibetische Jahr 2151 begleiten wird.

Die Original-Serviette werden wir dann übrigens in den kommenden Wochen unter unseren Newsletter-AbonnentInnen verlosen.